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Der psychologische Test
Das psychologische Experiment
Test und Experiment sind geradezu typisch für das naturwissenschaftliche Paradigma in der Psychologie. Beide stehen für eine vereinfachte bzw. reduzierte Welt. Diese Entwicklung der einzelwissenschaftlichen Psychologie in der Nachfolge der Naturwissenschaften hat seinen Grund in den epistemologischen Zielsetzungen, die hinter diesem Paradigma stehen: gesichertes, objektives Wissen über die Welt zu erlangen, d.h. letztlich, die Welt so zu beschreiben bzw. zu erklären, wie und warum die Welt so und nicht anders ist.
Historisch gesehen hat besonders in der experimentellen Psychologie das Modell der Naturwissenschaften (Physik und Biologie) die zentrale Rolle gespielt. Dieses reduktionistische Modell macht die Gültigkeit ihrer Ergebnisse und damit die Erfüllung ihres Wissenschaftlichkeitskriteriums, unter anderem abhängig von der Übernahme und Anwendung der naturwissenschaftlich erprobten, wiederholbaren und jederzeit kontrollierbaren Strategien. Viele Denkansätze und Methoden der psychologischen Diagnostik sind auf die experimentelle Psychologie zurückzuführen, es existieren also viele Gemeinsamkeiten.
Schwemmer (1983, 66) schreibt in Bezug auf das Experiment: "Fragt man nach dem entscheidenden Schritt zu unserer neuzeitlichen und gegenwärtigen Wissenschaft, so wird man das Experiment - und seine mathematisch-technische Bewältigung - als das Kriterium nennen können, durch das die Grenzen zwischen vorwissenschaftlichen Spekulationen und wissenschaftlichen Theorien markiert werden. In der Tat hat die Einrichtung von Experimenten und die Ausrichtung aller Beobachtungen an dem Muster des Experiments die - so scheint es: alles - entscheidende Berufsinstanz geschaffen, die das endgültige Urteil im Streit der Meinungsparteien zu fällen hat".
Die historische Entwicklung der Methoden aus der sozialen Situation
Obwohl es eine lange Vorgeschichte zur Entwicklung der einschlägigen Methodologie, insbesondere zu Test und Experiment, in der Psychologie gibt, beherrschte bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ein nicht-naturwissenschaftliches Paradigma die Tätigkeit der psychologischen ForscherInnen. War bis etwa 1920 die Introspektion immer noch das Hauptmittel der psychologischen Forschung, so setzte sich ab dieser Zeit rapide eine radikal neue Sicht der psychologischen Forschung durch: Die Behavioristen, also rein verhaltensorientierte Forscher, proklamierten eine Psychologie völlig ohne Introspektion, die bis zu diesem Zeitpunkt der bevorzugte Zugang zum Psychischen war. Ihr Vorreiter war John B. Watson, der 1913 ein behavioristisches Manifest veröffentlichte.
Psychology as the behaviorist views it is a purely objective experimental branch of natural science. Its theoretical goal is the prediction and control of behavior. Introspection forms no essential part of its methods, nor is the scientific value of its data dependent upon the readiness with which they lend themselves to interpretation in terms of consciousness. The behaviorist, in his efforts to get a unitary scheme of animal response, recognizes no dividing line between man and brute. The behavior of man, with all of its refinement and complexity, forms only a part of the behaviorist's total scheme of investigation. (Watson 1913)
Hauptmerkmal behavioristischer Psychologie ist es also, keinerlei Annahmen über Struktur oder Funktionsweise des Geistes zu machen, sondern ausschließlich die Beobachtungen aus Experimenten zu sammeln und zu kategorisieren.
Nur mit einer solchen Herangehensweise könne man, so die Behavioristen, einem echten wissenschaftlichen Anspruch gerecht werden, weil der Vorgang der Introspektion keiner Nachuntersuchung durch andere zugänglich sei (Kriterium der Überprüfbarkeit). Wissenschaftliche Daten müssen aber genau so eine öffentliche Inspektion zulassen. Motor der behavioristischen Forschung waren zunächst vor allem die Arbeiten zur Konditionierung von Iwan Pawlow. Die konditionierte Reaktion wurde gewissermaßen als das Atom von Verhalten angesehen: kompliziertere Verhaltensweisen können als aus konditionierten Reaktionen zusammengesetzt betrachtet werden und die Umwelt formt ständig unser Verhalten durch Bestärkung gewisser Gewohnheiten - nichts anderes als Konditionierung. Der vielleicht berühmteste Vertreter dieser Richtung ist Burrhus Frederick Skinner. Diese Mechanismen wurden in Strukturen von Reiz und Reaktion dargestellt, was zu der Bezeichnung "Reiz-Reaktions-Psychologie" (stimulus response psychology, S-R psychology) geführt hat. Die späteren Reiz-Reaktions-Psychologen gingen über die frühen Behavioristen insofern hinaus, daß sie bereit waren, auch Annahmen über Prozesse zu machen, die zwischen Reiz und Reaktion ablaufen. Damit entwickelte sich aus der Reiz-Reaktions-Psychologie eine Sprache, die geeignet ist, unabhängig von einer bestimmten Verhaltenstheorie psychologische Aussagen explizit zu formulieren und kommunizierbar zu machen. Diese Sprache ist bis heute vorherrschend in der Psychologie der meisten Schulen (vgl. Stangl 1997).
Experiment wie Test stellen in der Psychologie zunächst eine soziale Situation dar, also jenen Kontext, in der "Psychologie" stattfindet. Innerhalb einer Wissenschaft ist der Ort der Erforschung weitgehend institutionalisiert, d.h., daß die allgemeine Verteilung der Rollen bzw. der Erwartungen hinsichtlich dieser Rollen und damit die Regeln des Interagierens innerhalb dieses sozialen Prozesses festgelegt sind. Während sich beim Experiment Versuchsperson und Versuchsleiter gegenüberstehen, sind es beim Test in der Regel der psychologische Praktiker und der Klient.
Allerdings ist der Begriff "sozial" insofern zu relativieren, als sich die im folgenden dargestellte historische Entwicklung auch als der Versuch darstellt, den "sozialen Part" immer mehr zu kontrollieren, d.h. letztlich zu eliminieren. Ein gutes Beispiel etwa ist das Erteilen von standardisierten Instruktionen durch schriftliche Vorlage oder durch ein Tonband. Des weiteren sollen in test- und experimentellen Situationen Zusatz- oder Zwischenfragen von Probanden bzw. Klienten mit Standardformulierungen beantwortet werden. Testpsychologe wie Experimentator sollen ein gleichbleibend freundlich-distanziertes Verhalten zeigen, neutrale Kleidung tragen usw. (vgl. Bortz 1984, 62).
Danziger (1985) gibt einen historischen Überblick über die Entwicklung dieser sozialen Situation, wobei er sich auf die Anfänge der Psychologie am Ende des 19. Jahrhunderts bezieht. Er zeigt, daß es damals noch keine festgelegten Rollen gab, denn diese ersten empirisch-experimentellen Ansätze entwickelten sich unabhängig und waren weitgehend von individuell-wissenschaftlichen Interessen getragen. "One striking feature … is the absence of an agreed-upon uniform nomenclature for identifying the participants in a psychological experiment" (Danziger 1985, 133).
Drei differierende Ansätze lassen sich unterscheiden:
Diese drei Modelle unterscheiden sich grundlegend in bezug auf die Fragestellungen, den sozialen Kontext und somit hinsichtlich des "context of discovery".
Im Leipziger Modell gab es keine - wie wir heute sagen würden - strenge Trennung zwischen Forschungssubjekt und Forschungsobjekt. "Wundts (Bild links) students frequently alternated with one another as stimulus administrators and sources of data within the same experiment.… Nor was the role of functioning as a data source considered incompatible with the function of theoretical conceptualization" (Danziger 1985, 134). Man könnte diese Form des experimentellen Kontextes idealisierenderweise als Forschungsgemeinschaft bezeichnen, die allgemein typisch und kennzeichnend für die deutsche Universität im späten 19. Jahrhundert war. Dabei waren diese Gruppen relativ unabhängig vom Lehrbetrieb und aufgrund der strengen Zugangsbedingungen zu solchen Zirkeln ziemlich isoliert. Eine solche Isolation bestand natürlich auch weitgehend vom gesamtgesellschaftlichen Kontext. Zwar war die inhaltliche Ausrichtung der Forschung durch den jeweiligen Professor vorgegeben, doch wenn ein Student einmal akzeptiert war, war er "involved in a collaborative enterprise" (Danziger 1985, 135). Eine Konsequenz dieses Modells liegt in der hohen Bewertung des Forschungsobjektes, sodaß Experimente unter dem Namen der Studenten publiziert wurden und der Name des Experimentators oft nicht einmal erwähnt wurde.
Wie wenig die WUNDTsche Experimentalsituation mit der heutigen gemein hat läßt sich auch daraus erkennen, daß seine Probanden in Hunderten von Sitzungen trainiert wurden, bevor sie im Experiment eingesetzt wurden (vgl. Graumann & Métraux 1977, 36). Da in diesen Experimenten vor allem auf die systematische Selbstbeobachtung Wert gelegt wurde, wurde damit auch dem Aspekt der Kontrollierbarkeit bei der Introspektion von Versuchspersonen in hohem Maße Rechnung getragen. Daher sind manche oft diesbezüglich vorgebrachten Einwände gegen die Selbstbeobachtung von Subjekten bei diesen Untersuchungen weitgehend ungerechtfertigt. Grafisch läßt sich dieser experimentelle Kontext wie folgt veranschaulichen.
(Stangl 1989, 122)
Dieser Forschungszirkel schwebt heute vermutlich noch vielen Ordinarien vor, wenn sie von Freiheit und Unabhängigkeit der Lehre an den Universitäten und ähnlichem schwärmen und sich über den heutigen Massenausbildungsbetrieb beklagen ;-)
Eine vollkommen andere Rollenverteilung gab es im Pariser Modell. Aufgrund des an der medizinischen Untersuchung orientierten Ansatzes gab es eine strenge Trennung zwischen Forscher (in der Regel Männer) und Forschungsobjekt (in der Regel Frauen). Dabei ging es zunächst vor allem um die Untersuchung experimentell induzierter Hypnosen, die diesen medizinischen Ansatz verständlich erscheinen lassen. Dieses Modell ähnelt auch der heute allgemein üblichen experimentellen Praxis, denn auch hier steht ein weitgehend passives Forschungsobjekt einem aktiven Forscher gegenüber. "A crucial feature of this definition was the understanding that the psychological states and phenomena under study were something that the subject or patient underwent or suffered. This contrasted quite sharply with the Wundtian experiment in which most of the phenomena studied were understood as the products of the individual's activity" (Danziger 1985, 135). Grafisch läßt sich dieser experimentelle Kontext wie in der folgenden Abbildung veranschaulichen.
(Stangl 1989, 123)
Dieses Modell wurde später unverändert auf andere Fragestellungen übertragen, etwa bei den berühmten Untersuchungen Binets an Kindern. Dieser sollte gemeinsam mit Simon im Auftrag des französischen Unterrichtsministeriums einen Intelligenztest entwickeln ("Echelle metrique de l'intelligence"), der helfen sollte, lernbehinderte von normalbegabten Kindern zu unterscheiden.
Binets Test hatte bereits fast alle Merkmale heutiger Tests. Seine Fragen wurden an einer großen Anzahl von Kindern ausprobiert. Jeder Frage wurde das "Intelligenzalter" zugeordnet, in dem genau die Hälfte aller Kinder dieses Alters die Frage noch richtig beantworten konnten. War die Korrelation zum Alter nicht eindeutig, wurde die Frage verworfen. Nun wurden alle Fragen in der Reihenfolge des lntelligenzalters angeordnet und den Kindern gestellt. Danach, bis wohin die Kinder durch die Fragen nicht überfordert wurden (diesen Punkt festzustellen gab es eindeutige Anweisungen), wurde das individuelle Intelligenzalter des Kindes festgelegt. Die 9jährige Diana mit dem Intelligenzalter 10 Jahre war also überdurchschnittlich intelligent, der 8jährige Jean mit einem Intelligenzalter von 6 Jahren und 5 Monaten war entsprechend zurückgeblieben. Binets Test wurde bald in andere Sprachen übersetzt, war in der Version "Stanford-Binet" bis in die 7Oer Jahre im praktischen Einsatz und ist auch heute noch erhältlich.
In diesem Modell wird das Subjekt als Erkenntnisquelle "benutzt", der Erkenntnisgewinn liegt mehr beim Forscher bzw. innerhalb der scientific community. In diesem Modell liegt auch eine der Wurzeln für den differentialpsychologischen Ansatz der Psychologie, denn dieses Design legt eher eine Suche nach Unterschieden zwischen den untersuchten Objekten nahe als die Suche nach Gemeinsamkeiten. Ein genereller Unterschied zwischen Leipziger und Pariser Modell liegt auch in den Inhalten: das Leipziger Modell untersucht die Aspekte der normalen menschlichen Kognition, während im Pariser Modell das Hauptgewicht auf abnormem und deviantem Funktionieren des Menschen liegt. Kennzeichnend für diese beiden ersten Modelle ist auch die Bezeichnung der Rollen, wobei vor allem die Rolle der Versuchsperson in unserem Zusammenhang von Interesse ist. Während es im Leipziger Modell aufgrund der Egalität der Personen keine diesbezüglichen Standardisierungen gab, bürgerte sich im Pariser Modell der Begriff des "sujet" ein, der dann als "subject" im englischsprachigen Bereich der Psychologie (zuerst bei Cattell) übernommen wurde, nicht zuletzt aufgrund der ähnlichen medizinischen Konnotationen (vgl. Danziger 1985). Folgerichtig entwickelte sich aus diesem am medizinisch orientierten sozialen Modell der Test als Anamnese- bzw. Diagnoseinstrumentarium.
Das amerikanische Clark Modell unterscheidet sich fundamental von den europäischen Modellen durch die Einführung der Population von Individuen als Forschungsobjekt. Diese Fokussierung hängt teilweise mit den pädagogisch-psychologischen Inhalten aber auch mit den Methoden der Forschung (insbesondere bei Hall) zusammen. Dadurch wird die Asymmetrie zwischen Forscher und Subjekt im Pariser Modell noch stärker verankert. Das Hauptgewicht liegt nicht mehr auf der Analyse psychologischer Prozesse bei einem Individuum, sondern auf der Verteilung von psychologischen Phänomenen in einer Population. Dadurch kommt es zu einer Anonymisierung, die den Beitrag des Individuums zur Forschung eliminiert. Die Interaktionen zwischen Forscher und Forschungssubjekt werden auf ein Minimum reduziert (Objektivität), da sie in diesem Modell bloß eine unerwünschte Störquelle darstellen. Die Reduktion des Forschungsobjektes auf die austauschbare Datenquelle ist vollzogen, sie hat sich bis heute erhalten und dominiert die akademische psychologische Forschung - vor allem im Bereich der Differentiellen und Sozialpsychologie - vollkommen.
(Stangl 1989, 123)
Dieses soziale Muster äußert sich schließlich sowohl in der Methode des Experiments als auch des Tests: in beiden Fällen erweisen sich große Stichproben bzw. Vergleichspopulationen als günstig.
Interessant ist hierzu ein Beispiel für die Anpassung von Wissenschaftlern an die in einer Kultur vorherrschende Konstruktion von psychologischer Wirklichkeit: Während Kurt Lewin - ein Begründer der Handlungsforschung - in seiner Frühzeit in Deutschland vorwiegend für eine am Einzelfall orientierte, auf die Erfassung konditional-genetischer Typen gerichtete Forschung argumentierte, änderte sich seine Einstellung bekanntlich grundlegend, als er 1935 in die Vereinigten Staaten kam und hier mit einer mehr am sozialen Umfeld interessierten Weltsicht konfrontiert wurde (vgl. Stangl 1989, 124).
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