[stangl] test & experiment: experiment vs. aktionsforschung

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Der psychologische Test
Das psychologische Experiment

Handlungs- oder Aktionsforschung

Im Unterschied zum naturwissenschaftlichen sind beim psychologischen Experiment die "Versuchsobjekte" ebenso wie der Experimentator Menschen ("Versuchsperson" und "Versuchsleiter"). Nach dem Organismusmodell unterscheidet sich die Versuchsperson also nicht grundsätzlich von den Versuchsobjekten naturwissenschaftlicher Experimente. Das Verhalten der Versuchsperson wird als Reaktion auf die vom Versuchsleiter manipulierten Reizbedingungen interpretiert, alle anderen verhaltensrelevanten Einflüsse gelten als Störfaktoren, die durch ausgeklügelte Versuchsanordnungen und den Einsatz statistischer Methoden möglichst vollständig kontrolliert werden sollen.

Nach dem Handlungsmodell dagegen stellt sich die experimentalpsychologische Versuchssituation als eine sehr spezielle und einseitige soziale Interaktion dar. Die Reaktionen der Versuchspersonen im Experiment sind nicht von den objektiven Reizen, sondern von deren Interpretation durch die Versuchsperson abhängig, d.h., die angestrebte Objektivität ist also nicht erreichbar. Zudem lassen sich die eingeschränkten Reaktionen im Experiment nur sehr beschränkt auf komplexe Alltagssituationen übertragen (Generalisierung). Somit liefert die experimentelle Methode in der Psychologie Ergebnisse, die für die Praxis häufig unbrauchbar sind.

Handlungsforschung Aktionsforschung Lewin KurtAls Alternative entwickelte der Sozialpsychologe Kurt Lewin in der Nachkriegszeit in den USA die Handlungs- oder Aktionsforschung: Die für die soziale Praxis erforderliche Forschung läßt sich am besten als Forschung im Dienste sozialer Unternehmungen oder sozialer Techniken kennzeichnen. Sie ist eine Art Tat-Forschung ["action research"], eine vergleichende Erforschung der Bedingungen und Wirkungen verschiedener Formen des sozialen Handelns und eine zu sozialem Handeln führende Forschung.

Die Aktionsforschung läßt sich durch folgende Besonderheiten kennzeichnen:

Aktionsforschungsprojekte entstanden vorwiegend im universitären Bereich sowie in der Randgruppen- und Stadtteilarbeit. Aktuelle Beispiele finden sich auch in Gemeinwesenprojekten in Lateinamerika, die unter der Anleitung von Sozialpsychologen standen. Schwierigkeiten der Aktionsforschung sind in ihren theoretischen Defiziten und in den Zufälligkeiten des jeweils zwischen Forschern und Beforschten ablaufenden Gruppenprozessen begründet. Grafisch läßt sich der Prozeß der Handlungsforschung - und damit wissenschaftlichen Handelns - wie folgt veranschaulichen.

Das (fast ausschließlich) vom Forscher kontrollierte Laborexperiment und die (weitestgehend) von den Beforschten bestimmte Aktionsforschung bilden Extrembeispiele psychologischer Methoden. Zwischen diesen Extremen finden sich auch Übergänge wie das Feldexperiment und die Feldstudie, bei denen der Forscher zwar in der natürlichen Umwelt der Beforschten arbeitet, seine Forschungsziele und Erhebungsmethoden aber aus einer theoretisch begründeten Fragestellung herleitet. In der psychologischen Praxisforschung muß im Einzelfall entsprechend der Zielsetzung und sozialen Situation entschieden werden, inwieweit eine distanzierende Trennung zwischen Forschern und Beforschten sinnvoll und notwendig ist.

In der Psychologie gibt es bisher nur wenige überzeugende Versuche, das Paradigma der Handlungsforschung forschungsleitend umzusetzen. Am ehesten können der Ansatz der Ethnomethodologie (Cicourel), das Konzept des symbolischen Interaktionismus (Mead) und einzelne kommunikationstheoretische (insbesondere therapeutisch orientierte) Richtungen als erste Versuche in dieser Richtung bewertet werden. Die Bedeutung der Handlungsforschung für die Psychologie liegt vor allem in den Perspektiven, die sie eröffnet. Die Bestimmung des Stellenwertes künftiger human- und sozialwissenschaftlicher Forschung für eine Gesellschaft - vor allem angesichts immer knapperer Ressourcen in diesem Bereich - ist von zentraler Bedeutung. Jede Rechtfertigung für Wissenschaft bzw. wissenschaftliches Handeln führt letztendlich zu einem Nachweis der Existenzberechtigung des Wissenschaftlers bzw. der Notwendigkeit seines Handelns im Rahmen der scientific community.

Nach 1970 wurde vor allem im Bereich der Pädagogik die Aktionsforschung als Konzept entdeckt ("action research"). Mit diesem scheinbar neuen Begriff wandte man sich von der traditionellen Unterscheidung von Grundlagenforschung und angewandter Forschung ab, denn angewandte Forschung hatte bisher bedeutet, daß vorgängig entwickelte und überprüfte Theorien in Prognosen umformuliert praktisch angewandt wurden, während die Entwicklung neuen Wissens dagegen der Grundlagenforschung vorbehalten war. Dieses Auseinanderklaffen war für die pädagogische Tradition fast zum Charakteristikum geworden und aus der Perspektive anderer Wissenschaften beinahe konstitutiv. Die pädagogische Aktionsforschung bestand daher auf einer enderen Verknüpfung von Theorie und Praxis, wobei in einem Zyklus von Forschen und Handeln idealerweise sowohl Theorie entwickelt wie praktisches Handeln angeleitet werden sollte (vgl. Moser 1975). Gleichzeitig nahm man aber auch Bezug auf das Wissenschaftsverständnis der kritischen Theorie (Habermas), wonach Wissenschaft nicht mehr auf die Gewinnung von wertfreier Erkenntnis beschränkt sein sollte, denn Erkenntnisse seien stets in Bezug auf Interessen zu sehen. Eine solche Aktionsforschung wollte deshalb bewußt am Interesse eines Wissens ansetzen, das für und mit den jeweils Betroffenen und nicht von außen erforscht werden sollte.

Nach der ersten Begeisterung wurden immer mehr kritische Stimmen zur Aktionsforschung laut, denn die Theoriebildung war in solchen Projekten meist vollständig vernachlässigt worden, sodaß tausende Projekte isoliert nebeneinander standen, die nach einer Sammlung von Informationen nie theorieentwickelnd ausgewertet wurden. Forschungsberichte beschränkten sich auf Nacherzählungen von Projekterfahrungen, wobei Hurrelmann (1977) sogar von naivem Empirismus sprach. Die gemeinsamen Interessen von Forschern und Praktikern gab es nur auf dem Papier, denn die Forscher aus den Universitäten dominierten die Projekte, da sie davon ausgingen, daß ihr theoretisches Wissen ihnen auch die Kompetenz gab, das richtige Handeln in der Praxis zu definieren. Im Bereich der Schule zgelang es Lehrer nicht, ihre eigenen Bedürfnisse und Fragen in diese Projekte einzubringen.

In der neueren pädagogischen Aktionsforschung versucht man daher, das Gewicht der Forschungsaktivitäten noch entschiedener in die Praxis der Schulen hineinzuverlegen, wobei die begleitenden Wissenschaftler eher in der Rolle von "kritischen Freunden" gesehen werden. Allerdings verschärft sich dadurch die Frage nach der Beziehung von Wissenschaft und Praxis noch mehr, denn es ist mehr als problematisch, die Bildung von Theorien als eine Art induktiven Prozeß zu verstehen. Praxistheorien sollten daher nicht schon mit den traditionellen Theorien sozialwissenschaftlicher Forschung verwechselt werden, denn auch Wissenschaft stellt ein gesellschaftliches System mit eigenen Normen und Regeln dar, die mit jenen der Praxis nur selten übereinstimmen, sodaß eine so konzipierte Aktionsforschung den Anschluß an die Wissenschaft nicht erreicht.

In der Folge wird daher neuerdings versucht, Aktionsforschung als eigenes Wissenschaftsparadigma zu deklarieren und die Wissenschaftstradition mehr oder minder zu negieren, also letztlich eigene Validitätskrititerien von Forschung zu definieren. Die wohl zur Forschung gehörende kritische Distanz und Unabhängigkeit von Praxisvollzügen und Interessen wird aufgegeben, obwohl die Wissenschaft wohl gerade deshalb für die Praxis gerade fruchtbar sein kann, wenn sie ihre Analyse aus einer nicht-praktischen Perspektive formuliert. In der qualitativen Forschung, die teilweise bewußt an die Aktionsforschung anknüpft, versucht man wieder ein neues Verhältnis zur Praxis zu finden, das von jenem äußerlichen positivistischen Blick zu unterschieden ist, der in der quantitativen Forschung vorherrschte. Es wird versucht, die Sinnperspektiven und Erfahrungen von Betroffenen - etwa durch Studien von Lebensläufen - aufzugreifen und in die eigene Theorieentwicklung einzubeziehen. Biographische Daten werden, so werden nicht nach äußeren Gesichtspunkten strukturiert, sondern wesentlich sind die Wendepunkte und Lebenskrisen, welche die Befragten in ihren Erzählungen hervorheben (Denzin 1989). Im Konzept der Praxisforschung wird die Ausarbeitung von Forschungsstandards wichtig, die Objektivität und Validität des erarbeiteten Wissens absichern. Wenn etwa biographische Lebenserfahrungen in dieser Absicht rekonstruiert werden, dann spielt der Rücktransfer in den Alltag der Untersuchten keine wesentliche Rolle mehr. Der qualitativen Forschung gelang es aber, durch eine stärkere Gewichtung von methodologischer Standards, die bisher unbestrittene Vorherrschaft der quantitativen Forschung zu durchbrechen. Dennoch ist zu beobachten, daß sich dadurch unterschiedliche Systeme entwickeln, die unabhängig voneinander funktionieren, sodaß das von ihnen produzierte Wissen sich auch nicht mehr transportieren läßt. Praxistheorien erzeugen und bewerten Wissen nach dem Kriterium der Brauchbarkeit, während Wissenschaften nach Wahrheit und Falschheit fragen, sodaß das Wissen der Wissenschaft in der Praxis als unbrauchbar beurteilt wird, während Wissen dort auch brauchbar sein kann, wenn es im Wissenschaftssystem als nachweislich "falsch" taxiert wurde. So ist der "Rosenthal-Effekt" in der Folge nie bestätigt worden, wird aber dennoch als gesicherte Erkenntnis tradiert. Heute finden Praxisuntersuchungen wie Evaluationsforschungen meist ohne jeden wissenschaftlichen Anspruch statt. Typisch sind dafür Selbstevaluationsstudien in sozialen Institutionen, die ohne größeren theoretischen Hintergrund durchgeführt werden und wobei es nur darum geht, die eigene Arbeit zu bewerten - meist unter dem Zwang zum Nachweis der ökonomischen Verwendung von Mitteln, sodaß sie häufig zu Rechtfertigungssystemen traditioneller Praxis verkommen.

Literatur:

Denzin, Norman K. (1989). Interpretive Interactionism: Newbury Park.
Hurrelmann, Klaus (1977). Kritische Überlegungen zur Entwicklung der Bildungsforschung. betrifft:erziehung 4.
Moser, Heinz (1975). Aktionsforschung als kritische Theorie der Sozialwissenschaften, München.

Siehe auch:
Werner Stangl: Handlungsforschung
W3: https://www.stangl-taller.at/ARBEITSBLAETTER/FORSCHUNGSMETHODEN/Handlungsforschung.shtml (02-10-28)

[Quellen: Legewie & Ehlers 1992, 26f; Stangl 1993]

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